Geschmackssinneswandel: Über das Fett und den Ekel

Vorgestern: ein Ribeye-Steak auf meinem (Restaurant-)Teller. Ich genieße das Fleisch und komme irgendwann zu dem „Fettauge“ in der Mitte dieses Stücks – ein innen schmelzweicher, außen angeknusperter Leckerbissen mit dem Geschmack von üppigem Mehr-davon und Röstkruste. Erst später fällt mir auf, dass so etwas für mich früher der Inbegriff von Iiih! gewesen wäre.

Fett am Fleisch. Ich erinnere mich immer noch mit innerlichem Peinlichkeitswinden an einen Spielbesuch zu Grundschulzeiten bei einem Klassenkameraden, der von einem Gutshof kam. Die ganze Familie und alle Hofmitarbeiter saßen beim Mittagessen um eine für meine Kinderaugen ewig lange Tafel herum. Und sämtliche Augen waren auf mich gerichtet, als ich versuchte, von dem Stück Kasseler auf meinem Teller auch noch das kleinste Fettfitzelchen abzuschneiden. Alle anderen waren längst mit dem Essen fertig; ich fieselte immer noch. Der Sozialdruck war in diesem Moment wirklich stark – aber nicht stark genug: Zum Fettessen konnte ich mich trotzdem nicht überwinden.

Das schweinerne Bauchfleisch mit seinem Wabbelfett, das bei den Nachbarn zum Grillen gehörte, konnte ich als Kind kaum ansehen. Und bei den Erzählungen meiner Eltern, die während eines mehrjährigen Afghanistan-Aufenthalts Schaschlikspieße mit dicken Stücken aus dem Fettschwanz der dortigen Schafe kennengelernt hatten, schüttelte es mich.

Ekel: ein komplexes Gefühl

Woher stammte der Ekel? Und wie kam es, dass er sich buchstäblich in das Wohlgefallen des Fettgenusses auflösen konnte? Wissenschaftler/-innen sehen in Ekelgefühlen entwicklungsgeschichtlich eine Schutzfunktion des Körpers vor Verdorbenem. Bei welchen Dingen allerdings dieses Alarmsystem anschlägt, ist höchst unterschiedlich.

Mindestens drei Faktoren spielen dabei eine Rolle:

1. Genetische Disposition

Ekel fängt mit Geruch und Geschmack an – hier wird die Schutzfunktion dieses Gefühls am deutlichsten. Verdorbenes Fleisch riecht und schmeckt einfach nicht gut. Nur setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass durchaus nicht alle Menschen gleich riechen und schmecken (ausführlicher könnt Ihr das hier nachlesen). Bei Leuten, die sich vor Koriander ekeln, ist zum Beispiel in der Regel ein Gen schuld: Es sorgt dafür, dass ihnen das Kraut widerwärtig seifig schmeckt. Da bei mir allerdings die Abneigung gegen Fett am Fleisch im Laufe der Zeit verschwunden ist, kann ich die genetische Begründung wohl ausschließen. Ein angeborener Ekel vor fettem Fleisch wäre ja auch aus Evolutionssicht vollkommen kontraproduktiv, denn schließlich spendet fettes Fleisch deutlich mehr Energie als mageres.

2. Individuelle Erfahrungen

Negative Erlebnisse, die sich mit einem bestimmten Geruch oder Geschmack verknüpfen, können Ekel auslösen. Mir zum Beispiel werden nie mehr Krabben in Currysauce ins Haus kommen. Vor vielen Jahren, in jenen seligen Zeiten, als es noch die direkte Fährverbindung von Hamburg nach England (Harwich) gab, bestieg ich in Hamburg einmal besagte Fähre. Mit dabei: ebenjene Currykrabben, noch vor dem Ablegen bei einem der Fischhändler unten an der Großen Elbstraße erworben. Später frischte der Wind auf, die Fähre schaukelte sich mächtig über die Nordsee, und mir ging es gar nicht gut. Irgendwann im Laufe der Nacht gab es ein Wiedersehen mit den Krabben – Details erspare ich euch. Seitdem ist dieses Lebensmittel für mich gestorben, obwohl die Krabben wirklich keinerlei Schuld traf. Diese Form der Konditionierung hat übrigens einen Namen: „Sauce-Béarnaise-Syndrom“, was auf ein ziemlich ähnliches Erlebnis zurückgeht. Aber: an entsprechend eindrückliche Geschichten mit Fett am Fleisch kann ich mich nicht erinnern. Bleibt noch die dritte Möglichkeit, und bei der lande ich in Geschmacksdingen komischerweise immer wieder:

3. Kulturelle Prägung

Insekten, Pferdefleisch, vergorener Hering – alles nahrhafte Dinge. Und alles Dinge, die trotzdem starke Ekelgefühle hervorrufen, zumindest in Kulturen, in denen diese Lebensmittel traditionell nicht auf dem Tisch stehen. Solche gesellschaftlichen Bewertungen können sich allerdings auch wandeln. Roher Fisch war hierzulande den meisten Menschen hochgradig suspekt – bis die Sushi-Welle anrollte.

Sündenbock mit Speck auf den Rippen

Tja, und umgekehrt galt fettes Fleisch in unserer Gesellschaft jahrtausendelang als gutes Fleisch – bis die Ernährungswissenschaftler/-innen auf einmal in ihren Glaskugeln schlimme Krankheiten und frühen Tod für alle Liebhaber des Fetten und Fettigen vorhersahen. Schwupps – innerhalb weniger Jahrzehnte wurde Schweinen die Speckschicht weggezüchtet, die magere Putensteakschuhsohle avancierte zum Lieblingsgericht, und Hausfrauen schnitten sorgsam alle Fettränder ab, die das Fleisch beim Braten oder Schmoren saftig gehalten hätten.

Das hat sich in den letzten zehn, fünfzehn Jahren erneut geändert. Langsam ist wieder ins Bewusstsein zurückgesickert, dass ein Low-Fat-Leben ziemlich genussbefreit daherkommt. Und spätestens seit Gourmets für das maximal marmorierte Wagyu-Fleisch saftig zahlen, weil es saftig schmeckt, darf fettes Fleisch wieder als etabliert gelten.

Opportunismus des persönlichen Geschmacks

Es kann natürlich Zufall sein, dass mein persönlicher Geschmack eine ganz ähnliche Entwicklung von „Fett ist bäh“ zu „Fett ist mmh“ durchgemacht hat. Kinder haben ja mitunter unerklärliche Lebensmittelabneigungen, die sich später gerne auch mal wieder verwachsen. Allerdings kann ich mich eben nicht daran erinnern, dass es bei uns zu Hause damals regelmäßig Schweinebraten mit ordentlicher Fettschicht und Krachkruste gegeben hätte – das magere Schweinefilet dagegen ist mir als feines Sonntagsessen durchaus im Gedächtnis geblieben. Auf unserem Grill lagen keine Schweinebauchstücke, sondern Würstchen, denen man den Fettgehalt nicht ansah. Ich halte es also durchaus für denkbar, dass ich die Wertschätzung für Fett am Fleisch als Kind nicht gelernt habe und so einen Ekel vor dem „Gewabbel“ entwickeln konnte. Später, als ich mich für Essen, Kochen und Genießen zu interessieren begann, erlebte ich den Meinungsumschwung in der kulinarischen Welt – und vollzog ihn mit.

Heute genieße ich nicht nur Rib-Eye-Steak inklusive „Fettauge“, sondern liebe auch knusprige, aber fetttriefende Rippchen und Schweinebauch, aus dem gerade die Chinesen wunderbarste Dinge zuzubereiten verstehen. Als mir allerdings auf der letzten Frankfurter Buchmesse bei den US-amerikanischen Verlagen ein Kochbuch mit dem Titel Fat (inzwischen auch auf Deutsch: Fett*) begegnete, da hatte ich das Gefühl: So weit bin ich auf meiner inneren Reise von der Fettverächterin zur Fettliebhaberin dann doch noch nicht gekommen. Der Text klingt aber plötzlich doch interessant. Ist es Zeit für den nächsten Schritt? Vielleicht bestelle ich das Buch doch noch.

Stichworte: ,

5 Gedanken zu “Geschmackssinneswandel: Über das Fett und den Ekel

  1. Birgit

    hoch spannend – vor allem auch die Veränderung von der Fetthasserin bis hin zur Genießerin. Das öffnet mir noch einmal den Blick auf meine eigene Haltung, die bislang eher von der Überschrift geprägt ist – wie Vieles auch dies eine Frage der inneren Einstellung … ;-)

    1. Sabine Schlimm Artikel Autor

      … und die innere Einstellung ist ja, wenn sie sich als (Gaumen-/Zungen-)Geschmack tarnt, oft so schwer zu fassen! Übrigens lese ich gerade an vielen Stellen etwas darüber, inwiefern sich Geschmack willentlich verändern lässt. Dazu gibt’s bestimmt demnächst was hier im Blog.

  2. Pingback: Sonntags-Safran-Luxus: Linguine mit Dicken Bohnen | Schmeckt nach mehr

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert