Sizilianische Heimwehküche in Deutschland

Manche Gerichte gehören einfach so selbstverständlich zu unserem Leben, dass wir darüber kaum nachdenken – geschweige denn in uns hineinhorchen, was wir emotional mit ihnen verbinden. Was aber, wenn dieses Selbstverständliche gar nicht mehr selbstverständlich ist? Weil sich die Lebensumstände geändert haben zum Beispiel? In dieser Interviewreihe befrage ich Menschen, die aus dem Land ihrer Kindheit weggezogen sind, nach Essgewohnheiten, Lieblingsgerichten und einem Heimwehgefühl, das sich am Geschmack von früher festmacht. Die ersten Interviews der Reihe finden sich hier.

Marco Liuzza

Marco Liuzza, Inhaber eines Reiseunternehmens mit Schwerpunkt Sizilien. Foto: privat

Marco Liuzza ist der Mensch hinter dem Reiseunternehmen Sentiero … turismo, das umwelt- und sozialverträgliche Reisen nach Italien und speziell Sizilien anbietet, aber auch Individualreisende bei der Planung ihres Italienurlaubs unterstützt: durch Buchung von Mietwagen, Recherche von Unterkünften und jede Menge Tipps.

Seit wann lebst du in Deutschland und warum bist du hergezogen?

Ich komme aus Palermo, der Hauptstadt von Sizilien. Im Jahr 2000 habe ich meine heutige Frau kennengelernt, eine Deutsche. Einige Jahre später bin ich nach Deutschland gezogen, und hier lebe ich seitdem.

In Italien hatte ich für den WWF gearbeitet, unter anderem als Regionalsekretär in Palermo, zuletzt im Naturschutzgebiet der Salinen bei Trapani. Als ich nach Deutschland kam, konnte ich erst einmal kein Wort Deutsch und verbrachte das erste Jahr damit, die Sprache zu lernen.

Sobald ich mich einigermaßen auf Deutsch unterhalten konnte, merkte ich, dass ich ständig nach Rezepten der italienischen Küche gefragt wurde. Erst gestern wieder wollte ein Kollege wissen: „Was kochst du heute Abend?“ Alle setzen wegen meines italienischen Passes quasi voraus, dass ich ein exzellenter Koch bin. Irgendwie hat das auch gewirkt. Hier in Deutschland habe ich angefangen, anspruchsvolle italienische Rezepte zu kochen, habe frische Pasta in industriellen Größenordnungen hergestellt und aufwendiges Gebäck. Dann habe ich mir zugetraut, für die Szene Essen+Trinken 2012/2013 italienische Restaurants zu testen. Manchmal organisiere ich kleine Kochkurse, wie jetzt zum Beispiel Anfang Oktober.

Aber die Gastronomie als Branche passt nicht zu mir. Bis 2010 habe ich im Filmproduktionsmanagement einer deutsch-italienischen Firma gearbeitet, die Zeichentrick- und Kinderfilme produziert. 2011 habe ich mich mit einem Reiseunternehmen selbstständig gemacht. Aber ich finde es immer noch lustig, dass viele Leute hier glauben, jeder Italiener könnte automatisch gut kochen.

Was empfindest du als typisch deutsche Essgewohnheiten?

Das ist eine schwierige Frage. Ich habe den Eindruck, dass die deutsche Küche so viele Einflüsse von anderswo aufgenommen hat, dass oft noch nicht einmal diejenigen, die hier aufgewachsen sind, wissen, was die deutsche Küche eigentlich ausmacht.

Aber Pfannkuchen sind für mich etwas typisch Deutsches ‒ und Spargel und natürlich viele Rezepte mit Kartoffeln. In Italien wird Spargel selten verwendet und wenn, dann wird er anders gekocht. Ich kannte ohnehin nur wilden Spargel, der deutlich bitterer ist.

Die Deutschen essen außerdem richtig viel Fleisch, mehr als die Italiener, was überhaupt nicht mit meinen Essgewohnheiten zusammenpasst.

Welche deutsche Essensvorliebe hast du übernommen?

Ich esse gerne mal Grünkohl mit Würsten oder auch Spargel. Worüber ich sehr froh bin hier, ist die Kuchenkultur. Das ist natürlich ganz etwas anderes als die sizilianische pasticceria (Konditorenkunst) mit ihren berühmten dolci, aber der deutsche Kuchen ist zumindest ein Ausgleich.

Grünkohl mit Kartoffeln und Wurst

Typisch deutsch, findet Marco: Grünkohl – und viel Fleisch. Foto: © Yantra – Fotolia.com

Gibt es deutsche Essgewohnheiten, die du nach wie vor seltsam oder sogar fies findest?

Also, mit der Angewohnheit, abends Brot zu essen, komme ich gar nicht zurecht. Bei einem Abendbrot mit Käse und Salami und so könnte ich stundenlang essen, ohne den Eindruck zu haben, satt zu sein. Wir essen abends eher warm. Abendbrot esse ich nur mal, wenn wir irgendwo eingeladen sind. Aber das Abendessen findet mir hier sowieso viel zu früh statt. Gerade in Süditalien isst man nicht um 19 Uhr, sondern eher gegen 21 Uhr.

Auch das Frühstück ist total anders. Deutsches Frühstück mag ich zwar, aber ich schaffe es nicht, morgens schon gekochte Eier zu essen ‒ zu anderen Tageszeiten schon, aber nicht zum Frühstück! Anhand solcher Sachen habe ich übrigens auch gelernt, wo ich zwischen meinen deutschen Kunden und italienischen Partnern vermitteln muss. Ich sage den B&B- oder Agriturismo-Betreibern dann: „Passt auf, ihr müsst den Deutschen auch Butter, Käse und Wurst hinstellen. Und vor allem: Die Tüte mit Zwieback muss verschwinden. Die Deutschen sind beleidigt, wenn man ihnen nur Zwieback und Marmelade als Frühstück anbietet.“ In Italien ist das relativ normal.

Porree finde ich übrigens nicht so lecker. Ich kann ihn essen, aber ich finde nicht, dass er den Geschmack eines Gerichts verbessert. In Süditalien kocht man damit nicht.

Was mich immer mal wieder aus der Fassung bringt, ist, dass ich in vielen Cafés, Kneipen oder auch Restaurants in Deutschland keine Servietten finde! Ich muss erst danach fragen, und die Kellner schauen mich manchmal an, als wäre das ein Luxusartikel oder meine Frage komplett abwegig.

Gibt es Lebensmittel, die du in Deutschland vermisst und die du dir von Besuchern aus der Heimat mitbringen lässt?

Was ich vermisse, sind die sizilianischen cannoli. Diese frittierten Teigröllchen sind mit einer Ricottacreme gefüllt, und diese Creme bekommt man in Deutschland einfach nicht hin. Der Ricotta, den man hier im Supermarkt kaufen kann, schmeckt immer irgendwie industriell. Man könnte natürlich Ricottacreme aus Sizilien mit dem Flugzeug hierherbringen, aber sie hält sich nicht lange und muss am selben Tag gegessen werden. Gerade bei sommerlichen Temperaturen kippt sie sehr schnell um. Gerichte, in die Ricotta gehört, sind hier also quasi unmöglich zuzubereiten.

Ricotta

Ricotta – der Stoff, aus dem die Sehnsüchte eines Sizilianers in Deutschland sind. Foto: © Studio Gi – Fotolia.com

Außerdem ist in Deutschland kein Wildfenchel zu finden, und der ist wichtig für die sizilianische pasta con le sarde, ein Pastarezept, das mit Sardinen und eben Wildfenchel zubereitet wird. Einmal habe ich eine riesige Menge aus Sizilien mitgebracht, hier gekocht und eingefroren, und zwar Kochwasser und Wildfenchel getrennt. Das ist wichtig, denn der Kochsud wird verwendet, um die Nudeln darin zu kochen.

Auf dem Markt habe ich irgendwann Dill gefunden, der ähnlich aussah und roch. Ich habe also Dill für dieses Gericht benutzt, aber sofort begriffen, dass der im Vergleich zu Wildfenchel viel intensiver schmeckt. Man darf also höchstens die Hälfte der Menge verwenden. Trotzdem: Es ging. Ich bin gut darin geworden, zu improvisieren und fehlende Zutaten durch andere zu ersetzen.

Gibt es irgendwelche Gerichte, auf die du Lust bekommst, wenn dich Heimweh überfällt? Und kochst du sie dir dann?

Ja, ich träume von all den Dingen, für die man Ricottacreme braucht. Der Wunsch nach cannoli war gerade am Anfang meiner Deutschlandzeit so stark, dass ich zu irgendeiner Party beschlossen habe: Ich muss jetzt welche selber machen. Wir haben uns dafür extra eine Fritteuse gekauft, und eine Freundin von uns hat aus Sizilien die Metallröllchen mitgebracht, um die der Teig gerollt und frittiert wird.

Um den Ricotta zu bekommen, bin ich in den italienischen Spezialitätenladen von Paola in der Ottenser Hauptstraße gegangen und habe Paola gefragt, ob sie mir helfen kann, einen besseren Ricotta zu beschaffen. Sie sagte: „Ja, das sollte ich hinkriegen.“ Ich habe ihn also vorbestellt. Später hörte ich, dass es Schwierigkeiten mit der Lieferung gegeben hatte. Aber Paolas Mutter war gerade zu Besuch in Hamburg und sagte zu ihrer Tochter: „Wenn du Ricotta versprochen hast und deine Kunden und deren Gäste darauf warten, dann kannst du sie nicht enttäuschen. Ich mache den Ricotta selbst.“

Sizilianische Cannoli

Cannoli, frisch aus der sizilianischen Pasticceria. Foto: A. Schlimm

Paolas Mutter hat also den Ricotta gemacht, ich habe die Creme hergestellt und die cannoli frittiert und gefüllt. Das habe ich hingekriegt, aber es ist das einzige Mal geblieben.

Außer für cannoli braucht man Ricottacreme auch für die Spezialität iris al forno, ähnlich einem Brioche, das mit Creme gefüllt wird. Gerade damit verknüpfe ich starke Erinnerungen, denn als Kind habe ich das oft in einer Bar gekauft und gegessen.

Was mir hier außerdem fehlt, sind arancine, also Reisbällchen, die entweder mit Fleischragout und Erbsen oder mit Butter und Mozzarella gefüllt sind. Die Bällchen werden dann in Paniermehl gewendet und frittiert. Das macht hier auch keiner, weil es so viel Arbeit ist.

Wenn du wieder nach Hause zurückkehren würdest, welche deutschen Lebensmittel oder Rezepte würdest du mitnehmen?

Sauerkraut mit Kasseler, Grünkohl, Pfannkuchen und Rote Grütze. Und Käsekuchen, denn der ist unter allen Kuchensorten derjenige, der mit nichts in Italien zu vergleichen ist. Dort kennt man ja auch keinen Quark. Ich finde es übrigens immer komisch, wenn „Ricotta“ mit „Quark“ übersetzt wird. Schließlich ist das ganz und gar nicht das Gleiche.

Vielen Dank, Marco, für das Interview!

11 Gedanken zu “Sizilianische Heimwehküche in Deutschland

    1. Sabine Schlimm Artikel Autor

      Hallo Barbara, danke für den Tipp! Ich werde das jetzt wirklich mal versuchen mit dem selbst gemachten Ricotta. Bisher hatte mich davon die Furcht abgehalten, dass mich irgendwelche italienischen Mitleserinnen und Mitleser hauen könnten, weil ich es wage, Ricotta nicht total original aus Molke herzustellen. Aber wenn Du schreibst, der Ricotta aus Milch schmeckt haargenau so, wie Du ihn aus Sizilien kennst, dann mache ich das sofort. Ich werde berichten!

  1. Sandra

    Hallo Sabine,
    Essen hat total viel mit Heimatgefühl zu tun! Selbst ich Österreiherin habe in Deutschland oft heimweh nach Kleinigkeiten. Dabei sollte man denken, dass man hier im Nachbarland.

    Lieben Gruß
    Sandra

    1. Sabine Schlimm Artikel Autor

      Das glaube ich gerne, dass eine Österreicherin in Deutschland Sachen vermisst! Das geht mir ja sogar schon innerhalb Deutschlands so: milchsauer vergorene Schnibbelsbohnen, wie man sie im Rheinland bekommt, gibt es in Hamburg nicht. Da habe ich dann schon mal zwei, drei Packungen im Koffer, wenn ich von einem Abstecher in den Süden zurückkomme. Aber ich bin neugierig: Was ist es denn, wonach du dich sehnst?

      1. Sandra

        Oh, da gibts eine ganze List…
        Geselchtes (ähnlich Kassler, aber doch ganz anders), Dürre (eine Wurst die man für Wurstfleckerl braucht), Topfengolatschen (eine Art Plunder mit Quarkfüllung), Krapfen vom Groisböck, Eis vom Tichy, …

  2. ninive

    Cannoli, die liebe ich auch heiß und innig. Inzwischen habe ich auch ein paar Einkaufsquellen für gute Ricotta gefunden- zwar nicht ganz wie frisch aber doch deutlich der gängigen Supermarktware überlegen. Hier leben sehr viele Sizilianer, und mit bißchen Spürsinn wird man für vieles fündig… habe auch schon Arancini als TK- Ware gefunden, aber über die Qualität kann ich da nix sagen.

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