Unter ostfriesischen Palmen: Grünkohl verkosten im Alten Land

[Enthält Verlinkungen zu kommerziellen Seiten, die weder beauftragt noch bezahlt wurden, sondern die ich als reinen Service eingefügt habe. Dieser Artikel erschien erstmals 2015 im längst eingestellten Blog „Messerspitzen“ des Teubner-Verlags.]

Kale, Kale, Kale. Seit Jahren werden in den USA verzückte Loblieder auf ein grünes Superfood gesungen: Mehr Vitamin C als eine Zitrone! Gesunde Ballaststoffe! Krebsvorbeuger! Cholesterinsenker! Bei nordamerikanischen Healthfood-Jüngern kommt das Grünzeug von morgens (im Green Smoothie) bis abends (als Pesto zur Pasta) auf den Tisch.

Während die Welle des Hypes drüben schon wieder abebbt und Kale manche nur noch zum Gähnen reizt, scheint sie die Reise über den großen Teich hierher nicht so recht zu schaffen. Kale roh als Salat, kurz blanchiert, als Pesto, gewokkt, gebraten? Aber – „das ist doch Grünkohl!“

 

Da staunen die Norddeutschen, und die Süddeutschen wundern sich. Erstere kennen ihren Gröönkohl (oder Braunkohl) als ewig gekochte graugrüne Pampe, die im Grunde der Rechtfertigung für den Verzehr von Fleischbergen und ordentlich Schnaps dient. Letztere betrachten das Wintergemüse entweder als Viehfutter oder als Bestandteil seltsamer Riten, die Eingeborene der polarnahen Gebiete Deutschlands rund um den hemmungslosen Verzehr von Fleisch und Schnaps abhalten. Von einem Feinschmeckerthema ist der Grünkohl bei uns bisher weit entfernt.

Grünkohl Grüner Krauser Pflanze auf dem Feld

Grünkohl: Grüner Krauser

 

Entsprechend gering ist das Interesse an der Frage, welche Geschmacksnuancen das Gemüse bietet – kein Wunder, dass im Großen und Ganzen nur noch eine einzige Sorte angebaut wird. Der Grüne Krause lässt sich hervorragend maschinell ernten, und die Bitterstoffe wurden ihm aus Rücksicht auf den Verbrauchergeschmack und die Bedürfnisse industrieller Verarbeitung weitgehend herausgezüchtet.

Bitter: der Verlust von Sortenvielfalt

Denn auch wenn in Norddeutschland traditionell der erste Frost als Beginn der Grünkohlsaison herbeigesehnt wird: Dass Temperaturen unter 0 °C im Kohl Bitterstoffe in Zucker umwandeln, ist ein Gerücht. Richtig ist: Fallen die Temperaturen unter 5 °C, schaltet die Kohlpflanze auf Winterruhe um. Sie hört auf, Bitterstoffe gegen ihre Fraßfeinde zu produzieren, baut die vorhandenen allerdings sukzessive ab. Was weitergeht, ist die Photosynthese in den grünen Blättern, bei der Fructose gebildet wird.

Grünkohl: Grüner Krauser im Gemüsegarten

Grünkohl: Grüner Krauser im Gemüsegarten

Im Lauf der winterlichen Erntesaison wird der Kohl also immer weniger bitter und immer süßlicher – was uns Menschen bekanntlich schmeckt. Allerdings kauft selbst in Norddeutschland kaum noch jemand Grünkohl frisch vom Feld. Meist werden in der Küche Dosen und Tiefkühlpackungen geöffnet. Und da die eindosende Industrie kaum auf den optimalen Erntezeitpunkt warten kann, wird den Bitterstoffen eben per Zucht der Garaus gemacht.

Für die traditionellen, lang gekochten Zubereitungen sind solche Geschmacksfeinheiten ohnehin egal. Im Zweifel schafft eine Handvoll Zucker die gewünschte süßliche Note. Dass es auch anders geht, dass Grünkohl tatsächlich ein Gemüse mit feinen Unterschieden sein kann, das demonstrieren hierzulande bisher nur ein paar versprengte Enthusiasten.

Grüne Vielfalt am Buffet

Wilhelm Wehrt und sein Küchenchef Frank Müller bemühen sich schon seit Längerem um fast vergessene Genüsse. Im Hotel Altes Land, im niedersächsischen Jork wenige Kilometer hinter dem Elbdeich gelegen, servieren sie ihren Gästen Spezialitäten vom Bunten Bentheimer Schwein und im Sommer Tomatensuppe aus der lokalen Sorte Vierländer Platte. Und im Winter verarbeiten sie für ihre beliebten Grünkohlbuffets neun bis zwölf verschiedene Sorten Grünkohl, den sie vom nahen Museumsbauernhof Wennerstorf beziehen.

Allein die Sortennamen! Diepholzer Dickstrunk, Lippischer Braunkohl, Rote Palme – reinste Bauernpoesie. „Am feinsten und mildesten schmeckt die Sorte Lerchenzunge“, verrät Frank Müller. Er selbst mag besonders die Holter Palme, die kräftig-aromatisch daherkommt.

Grünkohl: Diepholzer Dickstrunk

Grünkohl: Diepholzer Dickstrunk

Doch auch wenn die Speisefolge mit einem fruchtigen grünen Smoothie beginnt und mit Grünkohlpesto auf Panna cotta endet: Hier im Alten Land bleibt der Grünkohl im Wesentlichen eine gutbürgerliche Herzensangelegenheit. Der Diepholzer Dickstrunk wird mit Bürgermeisterbirnen gekocht und mit Ente kombiniert. Zum Lippischen Braunkohl gibt es Kohlwürste vom Bunten Bentheimer. Die Eisbeinpraline ist in die Blätter der Roten Palme eingeschlagen, die Forellenfilets vertragen sich bestens mit der Füllung aus dem italienischen Schwarzkohl Nero di Toscana. Immerhin verschafft das Durchprobieren eine wichtige Erkenntnis: Der rustikale, herbe Kohl kann gut mit fruchtiger Säure – die vegetarische Zubereitung mit Apfel ist ein echtes Highlight.

Das eröffnet ein weites Feld für eigene Kochexperimente, die allerdings wohl erst einmal auf den guten alten Grünen Krausen beschränkt sein dürften. Andere Sorten sind für Normalsterbliche kaum zu beschaffen. Bleibt – zumindest für Gartenbesitzer – nur die DIY-Methode: Saatgut von alten Sorten lässt sich immerhin übers Internet bestellen. Warum nicht einmal Lerchenzungen ins Blumenbeet setzen? Hübscher als die nur am Rand gekräuselten Blätter dieser Grünkohlsorte ist auch Zierkohl nicht. Und an der Ostfriesischen Palme mit ihren beeindruckenden 1,80 Metern Höhe lässt sich zwar keine Hängematte befestigen – aber wer will das im Winter schon? Reicht doch, wenn der kurze Gang in den Garten mit ein paar Palmwedeln belohnt wird. Mit Ingwer und Kokos zubereitet, beamt einen dann sogar der heimische Grünkohl in exotische Gefilde.

Ein Rezept für Grünkohl mit Ingwer (aber ohne Kokos) habe ich hier verbloggt: Grünkohl auf äthiopische Art (Gomen Wot).

Grünkohl äthiopisch (Gomen Wot) auf Injera mit Ei

2 Gedanken zu “Unter ostfriesischen Palmen: Grünkohl verkosten im Alten Land

  1. Karin Iden

    Liebe Sabine Schlimm,
    schon 2015 ist mein Buch „Das GRÜNKOHL Revival“ -40 kreative KALE Rezepte als by av-Buch im Cadmos-Verlag erschienen. Ebenso habe ich zuvor 14 Grünkohl-sorten, gemeinsam mit dem Fotografen, auf dem Feld (damals bei Orkan!!) in Wennerstorf geentet. Im Fotoatelier wurden diese Sorten dann sofort fotografiert und bei mir in der Küche zum Ausprobieren der Rezepte verwendet. Die „Geschichte“ mit dem Küchenchef vom“Hotel Altes Land“ kenne ich auch, und habe in dem Hotel auch die Gerichte probiert. Leider sind die Grünkohl-Sorten immer sehr zerkocht, weil sich das bei der Anzahl der zig Gäste im Saal nicht anders machen läßt. Netten Gruß Karin Iden. PS: Hatte Ihnen die Betriebsleiterin Anna-Lena Woelfert von meinem Buch nichts erzählt?

    1. Sabine Schlimm Artikel Autor

      Nein, von dem Buch wusste ich bisher nichts. Allerdings ist dieser Artikel ursprünglich auch schon im Februar 2015 erschienen; damals war das Buch wohl noch nicht auf dem Markt. Ich werde es mir mal angucken – danke für den Tipp!

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