Finger weg von meinem Essen!
Vor Kurzem habe ich einen Satz gehört, der mich seitdem nicht mehr loslässt:
Essen bietet emotionale Sicherheit.
Gesagt hat ihn Gunther Hirschfelder, Kulturwissenschaftler mit Schwerpunkt Ernährung, und zwar in einer Sendung des WDR über vegetarische Ernährung. Das Video finde ich inzwischen online nicht mehr wieder, aber zum Glück scheint Hirschfelder diesen Satz öfter in ähnlicher Form zu äußern, deshalb kann ich zumindest auf einen Vortrag von ihm verlinken, in dem das vollständige Zitat lautet:
Der Mensch ist nirgends konservativer als da, wo es um das Essen geht, weil Essen, gerade unter Stress, emotionale Sicherheit vermittelt.
Das ist jetzt vielleicht keine bahnbrechende Erkenntnis. So oder so ähnlich habe ich (und habt vermutlich auch ihr) das schon geahnt. Aber manchmal muss etwas ja auf den Punkt gebracht werden, damit es Aha-Erlebnisse gibt.
Meine Aha-Erlebnisse haben auch damit zu tun, dass ich den Satz gerade jetzt gehört habe – nämlich in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu dem „Wie schmeckt vegan“-Experiment bei Katharina Seiser von esskultur.at, das ja viele verfolgen, diskutieren, kommentieren. Besonders aufschlussreich fand ich Kathas Erkenntnisse nach Tag 5:
leute rechtfertigen sich mir gegenüber ungefragt, warum sie nicht vegan essen wollen und werden und wie lachhaft, deppert oder sinnlos sie das finden. finde das im moment einigermaßen befremdlich. fühle mich weder zu den einen (die, die jetzt mit ihren ressentiments und gescheitheiten und vorurteilen und wichtigtuereien und theorien daherkommen), noch zu den anderen (denen, die “echt” vegan leben) zugehörig.
Überrascht mich nicht. Meiner Erfahrung nach gibt es kaum etwas, bei dem sich Menschen so in ihrer Lebensführung und in ihren Überzeugungen angegriffen fühlen wie bei der Frage, was sie essen, was nicht – und warum. Meine Netzwerkkollegin Julia hat letztes Jahr ebenfalls mal ein veganes Experiment durchgeführt und musste feststellen, dass sie darauf abwertende bis aggressive Reaktionen erntete. Sie führt das nicht weiter aus, aber wenn man mal bei Illith vorbeischaut, bekommt man eine Ahnung davon, welche stereotypen bis schlichtweg bekloppten Reaktionen der simple Satz „Ich esse vegan“ auslösen kann.
Natürlich gibt es andersherum genauso die predigenden Vegetarier, Low-Carbler, Low-Fatler, Schlank-im-Schlaf-Verfechter, Genuss-ist-alles-Anhänger und die superbewusst Konsumierenden („Was, du isst Quinoa? Das zerstört aber die lokale Wirtschaft in den Anden!“). Manchmal hat man schon das Gefühl, Ernährung ist die neue Religion. Ach ja, und die neue Politik gleich mit. Aber während wir (hierzulande und in dieser unserer Zeit) die Möglichkeit haben, uns aus Religion und Politik rauszuhalten, geht das beim Essen nicht. Essen müssen wir.
Und wir reden darüber. Was zu Streit führt. Und warum wir bei dem Thema so empfindlich reagieren, wenn jemand anders eine andere Essensauswahl trifft, das hat mir eben der Satz von Hirschfelder so richtig klargemacht: Essen bietet emotionale Sicherheit. Es ist ein Halt, oft auch ein Festhalten an Gewohntem in unruhiger Zeit und soll daher bitteschön nicht selbst irgendwelchen fluktuierenden Werten unterworfen sein, zu denen man wieder Stellung beziehen muss. Es fühlt sich zutiefst persönlich an ‒ sobald aber jemand durchblicken lässt, dass er oder sie eine andere Essenswahl trifft, und dafür wie auch immer geartete weltanschauliche Gründe nennt, verliert auch mein Essen plötzlich den Status des Nur-Persönlichen. Ich fühle mich aus dem privaten Schutzraum, den mir das Essen suggeriert, in eine Öffentlichkeit gezerrt, in der meine Essensauswahl plötzlich Ausdruck einer Ideologie wird.
Anstrengend. Vielleicht ist das der Preis dafür, dass die Religion bei uns diese doppelte Rolle verloren hat: die des Horts emotionaler Sicherheit. Und die des Anknüpfungspunkts für ideologische Konflikte.
Oder wie seht ihr das?
- Bloggewichtel und gute Vorsätze
- Nachtrag: Wenn Essen wirklich zum Glaubenskampf wird
Pingback: wie schmeckt nach vegan? tag 1/7 - kulinarische notiz - esskultur
Hm…interessantes Thema…..dass Essen emotionale Sicherheit bietet, ist wohl jedem klar, wenn auch oft unbewußt. Auf den Gedaken, dass man genau deswegen sein Terrain und seine Lebenseinstellung oft so vehement verteidigt, bin ich aber komischerweise noch gar nicht gekommen. Aber Du hast recht, die Verteidigung der Essmodelle findet ja wirklich oft mir religöser Inbrunst statt….jetzt, wo Du mir klargemacht hast wieso, wird mir das vielleicht etwas weniger auf die Nerven gehen, danke dafür!
Emotinale Sicherheit – wofür? Für das eigene Selbst, meine Identität, die sich in vielen Bereichen ausdrückt: wie ich lebe, woran ich glaube, was ich fühle (!), wofür ich mich einsetze, was ich gerne esse, woran ich Spaß habe …. . All dies und noch viel mehr macht meine unverwechselbare Persönlichkeit aus, in der Gegenwart und zurückreichend in die Vergangenheit, und vermittelt ein gewisses Maß an Sicherheit: Ich bin eine nicht austauschbare Person. Veränderungen in diesem Bereich müssen auf einen eigenen, persönlich wohl begründeten Entschluss zurückgehen, sonst haben sie keine Aussicht auf Erfolg. Von außen kommende Veränderungswünsche (gesellschaftliche Mainstream-Konventionen, die z.B. einen bestimmten Körpertypus bevorzugen, eine sportliche Lebensweise vorschreiben oder ein bestimmtes gesellschaftliches Engagement) haben nur selten Erfolg, ja werden oft agressiv bekämpft, weil sie Verlustängste auslösen. Wer werde ich sein, wenn ich all das an mir verändere, was irgendjemand anderem nicht gefällt? Bin ich dann noch ich selbst?
Jürgen Dollase hat für den oben beschriebenen konservativen Typus ein schönes Wort geprägt: Redundanzesser.
Danke Euch für Eure Kommentare!
@Susanne: Hut ab, wenn Du es schaffst, Dich nicht mehr von Essensideologen ärgern zu lassen – ich muss zugeben, mir fällt das trotzdem schwer, und ich springe immer wieder in fruchtlose Debatten.
@Chawwa: Du hast recht, wenn Du sagst, dass Essen Teil der Persönlichkeit ist. Mir ist es trotzdem oft schwergefallen, zu begreifen, warum jemand aggressiv reagiert, nur weil daneben ein anderer sagt: „Ich esse vegan.“ Das heißt ja eigentlich noch nicht: „Ich esse vegan, und ich will, dass du das Gleiche tust.“ Aber es wird offenbar trotzdem so aufgefasst.
@Elissa: Redundanzesser – schön! Danke, das kannte ich noch gar nicht. Wobei Herr Dollase Essen ja auch eher als Kunstform betrachtet und diejenigen, die sich gerne an Mutters Kartoffelsalat festhalten, als Kunstbanausen. Kann man machen – ist aber nicht mein Ansatz.
Ich denke noch. :-)
Zum einen ist es für uns Foodies natürlich erstmal schön, wenn die Leute dauernd übers Essen reden, aber man fragt sich schon – gibt’s nicht Wichtigeres? Eigentlich nicht, weil ohne geht gar nichts. Weswegen man es grad auch mal in Ruhe lassen sollte, frei nach Oscar Wilde „Essen ist viel zu wichtig, um es ernst zu nehmen.“ Aber auch ich denke da noch weiter drüber nach, zumal das mein Job ist. Das Drüber reden wie das Denken.
Ich glaub schon, dass sich immer noch ganz prima über Politik oder Religion streiten lässt, wenn der andere was dazu rauslässt, vor allem jenseits des Mainstreams. Oder wenn ich einem sagen würde, dass er zuviel verdient, hei, da wär was los! Aber er sagt mir nicht, wie viel er verdient, und selten dazu, wen er wählt und woran er glaubt.
Aber sein Essen kann man halt noch nicht verstecken… und in ihm vermischen sich Persönlichstes (was kommt mir noch näher als oben der Gummiring, wenn ich ihn kaue und schlucke und er Kindheitserinnerungen ans Hirn sendet) und Politischstes. Vor allen Augen.
Und jetzt gehe ich in die Drogerie, weil das der nächste Laden hier ist, wo man Pfirsichringe kriegt. Das bietet ja alleine schon elf Diskussionspunkte
Danke, Sebastian – stimmt, wie man isst, lässt sich wirklich kaum verstecken. Und ja: über den Gummiring hier oben wird unter meinen geschätzten Leserinnen und Lesern auch heftigst diskutiert. ;-)
Gerade im Web gefunden und vielleicht auch für die interessant, die sich fragen, warum Äußerungen zu „meinem Essen“ oft so agressiv aufgenommen bzw. abgewehrt werden:
http://www.jawl.net/weniger-diskutieren/2014-01-28/
Liebe Grüße von Chawwa, die sich jetzt ein veganes Süppchen kocht, ganz ohne weltanschaulichen Hintergrund, einfach nur, weil das Rezept so lecker klingt.
(Welches? Seht mal hier: http://flowersonmyplate.de/maronencremesuppe-knuspriger-rosenkohl/)
Pingback: Der Streit ums richtige Essen: eine niemals endende Debatte » Unverbissen vegetarisch
bin über nutriculinary auf diesen Beitrag gestolpert. Klasse! Anscheinend wird das Thema „Dogma Ernährung“ zunehmend häufiger diskutiert. Einer spricht schon von einem „Protein-Krieg“ und malt eine aberwitzig absurde Vision …www.freihaendigkochen.de/protein-krieg/
andere proklamieren den Tierfreitag
http://www.esskultur.at/index.php/2014/01/31/der-tierfreitag/
undogmatisch Schmackhafte Grüße
Sven
Hi Sven, danke für die zusätzlichen Links! :-)
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