Ans Essen erinnern: Vorlesegeschichten für Menschen mit Demenz
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Erinnerungen verschwimmen. Alltägliche Handgriffe werden plötzlich zu Herausforderungen, vertraute Menschen zu Fremden. Demenz betrifft in Deutschland ca. 1,5 Mio. Menschen, und nicht nur sie leiden darunter, sondern auch die Menschen in ihrem Umfeld. Was reden, wie Nähe aufbauen, wenn der fortschreitende Gedächtnisverfall nur noch wenige Gesprächsthemen zulässt?
Der Verlag an der Ruhr hat eine ganze Buchreihe mit 5-Minuten-Vorlesegeschichten für Menschen mit Demenz im Programm, die hier ansetzen: Die Geschichten helfen, mit Demenzkranken ins Gespräch zu kommen und gleichzeitig Erinnerungen wieder wachzurufen. Ich habe mir aus dieser Reihe den Band Leibgerichte* von Birgit Ebbert angesehen, in dem 18 Geschichten übers Essen und Trinken enthalten sind.
Ein wichtiges Thema in diesem Zusammenhang (und eins, über das ich mich zusätzlich in der Broschüre Essbiografie in der Pflege*** informiert habe): Schließlich kann Essen enorm zum Wohlbefinden beitragen. Es regt die Sinne an, es löst im besten Fall positive Gefühle aus und verschafft Genuss, wenn andere genussvolle Tätigkeiten immer weiter eingeschränkt sind.
Alles gut also beim Essen? Leider nicht. Nicht wenige ältere Menschen leiden unter Mangelernährung: Bei vielen lässt der Appetit nach, manchmal verändert sich (auch durch Medikamenteneinfluss) der Geschmackssinn, und gerade Demenzkranke sehen manchmal nicht mehr ein, dass sie essen müssen, damit sie gesund bleiben. Sie müssen zum Essen überredet oder verführt werden – keine leichte Aufgabe, wenn Essbares mitunter nicht einmal mehr als solches erkannt werden.
Umso wichtiger, dass die Pflegenden wissen, was die erkrankten Menschen gerne mögen. Wissen und Erfahrungen aus früheren Zeiten helfen dabei nicht unbedingt weiter. Die Autorinnen der Broschüre Essbiografie in der Pflege führen das Beispiel eines Mannes an, der als Erwachsener gerne italienisch gegessen hatte, aber bei fortschreitender Demenz die ehemals geliebten Spaghetti mit Tomatensauce eines Tages verweigerte: Solche ekligen roten Würmer wolle er auf keinen Fall essen! Aufgewachsen war dieser Mann mit bodenständiger deutscher Hausmannskost; die Vorliebe für italienisches Essen entwickelte sich erst später. Typisch: Jüngere Erfahrungen sind zuerst vom Gedächtnisschwund betroffen.
So, eine ziemlich lange Einleitung zu einer Buchbesprechung, die aber hoffentlich gezeigt hat, wie wichtig ein solches Buch mit Vorlesegeschichten zum Thema Essen sein kann: nicht nur als Anknüpfungspunkt für Gespräche, nicht nur zum Gedächtnistraining, sondern auch als Spurensuche nach den positiven Ess-Erfahrungen des demenzkranken Menschen. Und die können eines Tages wichtig werden, um Mangelernährung vorzubeugen.
Ein wichtiges Buch ist also Leibgerichte auf jeden Fall. Aber als ich es las, war ich überrascht, wie unterhaltsam und, ja: genussvoll ich es darüber hinaus fand. In den 18 kurzen Geschichten hat Autorin Birgit Ebbert Erinnerungen und Anekdoten verarbeitet, die sie teils in ihrem persönlichen Umfeld fand. Alle führen zurück in die erste Hälfte des 20. Jahrhundert (auch wenn es nicht explizit gesagt wird), und die handelnden Personen sind Kinder, Jugendliche und ein paar (sehr) junge Erwachsene.
Hier wird also das „bei uns früher“ der Buchzielgruppe zum Leben erweckt. Aber auch für mich persönlich war es durchaus spannend, von Zeiten zu lesen, in denen Essen eine ganz andere Rolle spielte als heute: Hunger war noch eine konkrete Erfahrung, und Festtagsgerichte bedeuteten eine Abwechslung zur schlichten Alltagskost, auf die man monatelang sehnsüchtig hinfieberte.
Kein Wunder, dass das Essen in diesen Anekdoten eine so wichtige emotionale Rolle spielt! Da ist die kleine Irmgard, die unbedingt Kohlkönigin werden möchte und mit sturer Entschlossenheit Grünkohl isst, bis sie ohnmächtig wird – um einen „Orden“ aus Mettenden zu gewinnen. Da ist Bruno, dem als Familienjüngstem niemand etwas zutraut, bis er mit dem Onkel zum Angeln fährt. Da ist Lissy, die für ihr Leben gern Pfannkuchen isst und entsetzt feststellt, dass das Gericht vom Speisezettel der Familie verschwindet, seit der Vater besser verdient: Eine List muss her! Und da ist das junge Paar, das zum ersten Mal die Eltern einladen möchte, und zwar zu Ente mit Rotkohl und Klößen. Nur: Wie bereitet man eigentlich so eine Ente zu?
Einfach und kurz sind die Geschichten, ja. Aber sie sind mit so viel Wärme erzählt, dass sie auch den Vorlesenden Spaß machen. Auf jede Geschichte folgt eine Seite mit Fragen, die zum Erzählen anregen sollen: über Kindheitslieblingsgerichte, über Festbräuche, über verschiedene Namen für bestimmte Gerichte. Und man muss ausdrücklich nicht warten, bis das Gegenüber dement wird, um über diese Themen zu sprechen!
Überhaupt: Das Buch mag dafür konzipiert sein, es dementen Menschen vorzulesen, und ich bin mir sicher, dass es sich dafür wunderbar eignet – aber eben nicht nur. Wer sich für Essen interessiert und dafür, welchen Stellenwert es zu anderen Zeiten bei uns hatte, der findet hier jede Menge Spannendes. Ich bin mir jedenfalls sicher, dass ich immer wieder mal gerne darin herumschmökern werde.
Diesen Beitrag schicke ich zum Dauerevent “Jeden Tag ein Buch” im Blog Arthurs Tochter kocht.
Leibgerichte. 5-Minuten-Vorlesegeschichten für Menschen mit Demenz*
Verlag an der Ruhr 2015
128 Seiten, Taschenbuch
Preis: 9,95 Euro
- Pflück-Glück: Ich sammle … Knoblauchsrauke
- Mein Lieblingsspargel: Spargelsalat
Deine Rezension macht mir große Lust aufs Lesen!
Verschenken an Menschen ohne Demenz(-bezug) stelle ich mir allerdings schwierig vor … „Wieso denkst du, dass wir ein Demenz-Buch brauchen?“
Ja, ich glaube auch, das ideale Verschenkbuch ist es nicht … Aber selberlesen geht ja auch!
Ich finde, das Buch klingt schön und hat sicherlich seinen Platz. Allerdings scheint es mir eher etwas für die früheren Phasen dieser vielschichtigen Krankheit zu sein oder sogar für eher gesunde ältere Menschen. Von daher ist die Einsortierung des Verlags in die Kategorie „Demenz“ vielleicht nicht ganz glücklich oder zu eng geführt? Gerade in den späteren Phasen ist es wichtig, sensibel zu hinterfragen, was tatsächlich die Gründe für „Mangelernährung“ und „Nahrungsverweigerung“ sind. Dazu gibt es vor allem in der Pflege verschiedene und auch kontroverse Ansichten. Essen (und trinken) ist so oder so ein sensibles Thema, eben, wie du so schön auf diesem Blog zeigst, ein „Seelenthema“.
Sicher, bei fortgeschrittener Demenz ist es zu spät, übers Essen zu reden. Aber gerade am Anfang glaube ich schon, dass das gut funktioniert. Allerdings fehlen mir zugegebenermaßen (zum Glück) die persönlichen Erfahrungen damit. Ich stelle mir vor, dass es leichter ist, später die Gründe für Mangelernährung zu hinterfragen, wenn man schon vorher Anhaltspunkte für das Essverhalten des Betroffenen hat. Die Broschüre, die ich dazu verlinkt habe, empfiehlt, gezielt und mit ausführlichem Fragekatalog eine „Essbiografie“ zusammenzustellen.
Ich denke auch, dass im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit das Folgen einer Geschichte zu einer überfordernden und mitunter frustrierenden Herausforderung werden kann. Das besprochene Buch scheint aber gute Anregungen zu geben, um Themen und Erlebensbereiche finden zu können. Gerade solch „bodenständigen“ Themen, wie sie hier als Beispiele gegeben wurden, oder die Auseinandersetzung mit dem Thema Hunger werden somit vielleicht ein mehr in den Fokus gerückt, sodass es leichter fällt, ein gemeinsames Unterhaltungsthema zu finden.
Generell lässt sich bei vielen Demenzkranken eine Unterhaltung, deren Umfang vom Grad und dem Fortschreiten der Krankheit abhängt, mit einfachen und kurzen Fragen, die sich auf die Jugend oder Kindheit beziehen, in Gang bringen. So lässt sich mit ein wenig Informationen über die Biographie beispielsweise gezielt nach den Umständen des Aufwachsens (etwa auf einem Bauernhof) fragen und somit weitere Themenkomplexe erforschen.
Man sollte dabei sehr sensibel auf Zeichen der Überforderung oder Langeweile reagieren, denn wenn die Betroffenen merken, dass sie sich nicht erinnern oder sie einem Gespräch nicht mehr folgen können, stellt sich rasch Frust ein und es kann ein innerer oder äußerer Rückzug erfolgen.
LG, Daniela
Die Geschichten können bestimmt helfen wenn man jemanden mit Demenz in der Pflege hat. So kann man denen dann leicht hinweise geben und die Menschen fühlen sich nicht ganz hilflos.