Back to the roots (and berries): Essen als Identitätsstifter

In dem, was wir essen und trinken, drücken wir uns selbst aus. Ob ich zum Abendessen sous vide gegarte Bio-Rinderbäckchen, BigMac mit Pommes und Halblitereimer Cola, einen Rohkostsalat oder Sauerbraten mit Rotkohl und Klößen auf den Tisch stelle, hat etwas mit meinen Vorlieben und Erfahrungen, meinen Werten und meinem sozialen Status – sprich: meiner Identität zu tun. So weit, so wenig überraschend. Aber funktioniert das auch umgekehrt? Kann ich durch die Wahl meines Essens meine Identität verändern?

Ernte Wildreis

Indianische Wildreisernte im 19. Jahrhundert. Bild: S. Eastman, aus: The American Aboriginal Portfolio, by Mrs. Mary H. Eastman. Illustrated by S. Eastman. Philadelphia: Lippincott, Grambo & Co. 1853. Via Wikipedia.

In den USA werden derzeit etliche Ernährungsprojekte unter Native Americans (Indianern) durchgeführt, die solche Fragen berühren (ein ausführlicher – englischsprachiger – Bericht dazu erschien auf Aljazeera America). Ausgangspunkt dieser Projekte ist der durchschnittlich schlechte Gesundheitszustand von Indianern, die in Reservaten leben und dort teilweise von staatlichen Lebensmittellieferungen abhängig sind. Die hohen Diabetes- und Herz-Kreislauf-Erkrankungsraten in diesen Bevölkerungsgruppen werden vor allem auf ihre schlechte Ernährung zurückgeführt.

Man hätte jetzt hingehen und schlicht und einfach Kampagnen zu gesunder Ernährung starten können. Was sich aber im Moment ausbreitet, sind Projekte, in denen Native Americans die Ernährungsweise ihrer Vorfahren erforschen – und zumindest eine Zeitlang imitieren. Das größte (oder vielleicht auch nur bekannteste) Projekt wurde an der Northern Michigan University von Dr. Martin Reinhardt durchgeführt und trug den Namen „Decolonizing Diet Project“.

Die eigene Ernährung „entkolonialisieren“, also von „fremden“ Einflüssen frei machen: Im Namen wird schon klar, dass der Speiseplan aus Beeren, Wildreis, Süßwasserfisch und Wildfleisch nicht nur körperliche Effekte haben sollte. Dr. Reinhardt schreibt auf seinem Projektblog:

Dr. Martin Reinhardt explains that there is a deep historical interconnectedness, or spiritual kinship, between Indigenous peoples and their traditional homelands that makes the act of eating indigenous plants and animals much more personal.

 

Dr. Martin Reinhardt erklärt, dass es eine tiefe historische Verbundenheit, eine spirituelle Verwandtschaft, zwischen indigenen Völkern und ihrer angestammten Heimat gibt. Dadurch wird das Essen indigener Pflanzen und Tiere zu einem sehr persönlichen Akt.

 

Bisonkuh mit Kalb

Bisonkuh mit Kalb. Foto: Jesse Achternberg, WO-51-CD60, publiziert vom U.S. Fish and Wildlife Service (via Wikipedia)

Roxanne Swentzell, die ein ähnliches Projekt unter Pueblo-Indianern durchführte, wird in dem oben verlinkten Aljazeera-Artikel mit einer ganz ähnlichen Quintessenz zitiert:

“The physical aspect is cool, but there was something more,” she said. “It was a reconnecting with who we are. If we say we are Pueblo people, native people to this place, what does that mean if we are living just like the rest of America?”

 

„Der körperliche Aspekt ist toll, aber die Sache ging darüber hinaus“, sagte sie. „Wir sind unserer Identität wieder nähergekommen. Wenn wir sagen, wir gehören zum Volk der Pueblo, dem Volk, das hier seine Wurzeln hat – was für eine Bedeutung hat das denn, wenn wir genauso leben wie der Rest Amerikas?“

Reicht es also, traditionelle Lebensmittel zu essen, um sich Land und Volk wieder zugehörig zu fühlen? Kann man sich eine fast verlorene Kultur buchstäblich wieder einverleiben? Oder anders herum: Verwässert der Genuss von Speisen, die die Vorfahren noch nicht kannten, die Identität?

Fragen, die mir erst einmal fremd sind (und deren Kategorien von Eigenem, Fremdem und nationaler Identität bei mir tendenziell Alarmglocken schrillen lassen). Interessant finde ich sie trotzdem. Schon allein, weil darin zum Ausdruck kommt, welche Macht wir dem Essen zusprechen: Es kann offenbar Menschen sich selbst entfremden, es kann diese Entfremdung aber auch wieder heilen.

Wie seht ihr das? Kennt ihr ähnliche Beispiele bei uns?

20 Gedanken zu “Back to the roots (and berries): Essen als Identitätsstifter

  1. Alice Scheerer

    Liebe Sabine,

    im Schnitt mache ich mir ja mehr Gedanken über Alltägliches als andere. Aber aus diesem Blickwinkel habe die Suche nach ursprünglicher Ernährungsweise noch nicht betrachtet. Vielleicht, weil ich noch nicht so recht weiß, wie es sich anfühlt, wenn man seine Identität wiederfindet. Oder, weil ich noch auf der Suche nach der Ernährung meiner Vorfahren bin. Noch habe ich nicht alle Rezepte meine Urgroßtante gekocht. Und ich weiß zum Beispiel auch nicht so recht, ob man abends oder Mittags warm aß (übrigens ein tollte Thema für eine Recherche).

    Aber dass man durch Nahrung sein Körpergefühl verändern kann, weiß ich inzwischen. Wer weiß, vielleicht war die Nahrung, die mir besonders gut tut, auch das Lieblingsessen meiner Vorfahren.

    Liebe Grüße
    Alice von SlowLifeLab

    1. Sabine Schlimm Artikel Autor

      Ach, das ist ja interessant, Alice – ich wusste noch gar nicht, dass Du auf Spurensuche nach der Ernährung Deiner Vorfahren bist! Das würde ich ja gerne nachlesen. Gibt’s da einen/zwei/mehr Links zu?

  2. ninive

    Interessantes Thema auf jeden Fall… im Fall der Indianer ist es ja so dass diese noch ungefähr in ihrer Heimat leben und sich von der dort geübten Ernährung weit entfernt haben- an die sich aber ihr Organismus sicherlich angepaßt hat im Lauf der Zeiten. Dies wieder zu aktivieren- in jedem Sinne- stelle ich mir sehr sinnvoll vor.
    Bei uns sieht das doch anders aus, Mitteleuropa war seit ewigen Zeiten Ein- und Durchwanderungsgebiet und ist es ja bis heute, ich kann mir kaum vorstellen dass man hier etwas vergleichbares überhaupt finden könnte- weder die passenden Menschen noch die passende Ernährungsweise. Schaue ich allein in meine Familiengeschichte zurück gibt es noch garnicht sooo viele Generationen zurück sowohl Süd-Franzosen als auch europäische Russen, Wesensverwandtschaft stelle ich bei mir mehr zu den ersteren her, sowohl was Hitze-Toleranz, Hautfarbe und auch Essensvorlieben angeht. Und so geht es sicher den meisten Menschen hier- also wenn sie in ihrer Familiengeschichte graben, meine ich, kommt allerlei Vermischtes zu Tage.

    1. Sabine Schlimm Artikel Autor

      Hmm, ich finde das ja eine durchaus interessante Frage, ob und wie schnell sich der Organismus an bestimmte Ernährungsweisen anpasst. Die Anhänger_innen der Paleo-Bewegung, die ja hier auch rüberschwappt, behaupten ja, da hat sich eigentlich gar nichts getan, seit die Menschheit in Höhlen lebte und Mammuts jagte – deshalb wären beispielsweise Milch und Weizen ganz schädlich.
      Aber spannend, dass Du auch manche Deiner Essensvorlieben auf die Vorfahren zurückführst!

  3. Bettina Lander

    Sehr interessanter Text, regt zum Nachdenken an, danke dafür!
    Ich denke, Ernährung, von der Auswahl der Produkte über die Zubereitung und Würzung bis zu den sozialen Regeln des Essens ist ein häufig unterschätzter Aspekt von Identität. In unserer auf Effizienz fixierten Welt zählt auch beim Essen häufig nur noch: schnell, billig und sättigend. Dabei ist Essen ja eines der wenigen Dinge, die wir tatsächlich in uns aufnehmen, etwas, das unser Körper umsetzt, das ihn wachsen lassen und das so ein Teil von uns wird. Und das im Grunde schon vom Mutterleib an. Sehr früh bilden sich Geschmacksvorlieben, aber auch Abneigungen, die wir zum Teil mit anderen Menschen, die ähnlich aufwachsen, gemein haben. So kann sich über gemeinsame Essensgewohnheiten auch ein Gefühl der Zugehörigkeit und Heimat herausbilden. Wir kennen sicher alle das wohlige Gefühl, wenn ein von Kind an geliebtes Gericht mal wieder für uns gekocht wird. Gleichzeitig bilden Ernährungsgewohnheiten auch soziale Regeln ab, die von den Vorfahren übernommen und an Nachfahren weiteregeben werden. Insofern kann Essen und alles was damit zusammenhängt sicherlich nicht der einzige, aber auf jeden Fall ein wichtiger Aspekt sein, um zu seiner verloren gegangenen Identität zurückzufinden.

    1. Sabine Schlimm Artikel Autor

      Vielen Dank für den ausführlichen Kommentar! Dass am Essen soziale Rituale hängen, die viel mit Kultur und Identität zu tun haben, ist eine wichtige Ergänzung. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob Essen einen Weg zurück bietet, wenn die Überlieferung einmal unterbrochen ist – wie es die im Artikel genannten Beispiele suggerieren.

      1. Bettina Lander

        Ja, das ist eine spannende Frage. Essen alleine wird sicher nicht ausreichen, aber vielleicht wenn man es schafft, auch die damit verbundenen sozialen Rituale wieder aufleben zu lassen? Dann wäre das Essen sozusagen die Basis für eine Vergemeinschaftung und in diesem Fall für die Wiederbelebung der verlorenen sozialen Identität. Vielleicht ist die zeitliche Lücke auch schon zu groß und es wäre besser, statt auf Vergangenes zu bauen Raum und Grundlagen für die Herausbildung neuer Rituale und neuer Identitäten zu schaffen…

  4. Britta Freith

    Ich finde das Thema höchstspannend! Zum traditionellen Essen gehört aber doch noch mehr: die Nahrungsgewinnung. Wird die denn bei diesen Projekten auch beachtet? Es ist ja etwas anderes, ob ich Beeren jeden Tag stundenlang pflücken muss, oder ob ich sie vor die Haustür geliefert bekomme. Das Pflücken ist – wenig überraschend – ungleich mühsamer. Nehmen wir mal Johannisbeeren: Erst sammeln, dann mühsam abstriemeln, erst dann kann man sie verarbeiten. Bis das eine Mahlzeit für eine vierköpfige Familie wird …
    Genau das Gleiche gilt ja für Fleisch, sogar noch extremer. Büffeljagd war sicher kein einfaches Geschäft, war, glaube ich auch jahreszeitlich bedingt. Die Steaks täglich im Supermarkt zu kaufen kommt der Originalernährung wohl kaum näher. Genau so, wie es Schwein bei uns zur Schlachtzeit gab oder später so lange, wie die Räucherware hielt.
    (Ich lese jetzt mal die Artikel, um zu sehen, ob die darauf auch achten.)

  5. Ul

    Ob das plausibel klingt? Ich denke schon. Vermutlich haben sich die Körper an die verfügbaren Lebensmittel angepasst. Hier in Europa zum Beispiel an den Konsum von Milchprodukten, und bei den Inuit etwa an Kost mit viel tierischem Eiweiß und Fett.

    Grundsätzlich wäre es also eine schlaue Idee, sich so zu ernähren wie die Vorfahren. Wobei es natürlich auch Entwicklungen gibt, man denke nur an die Einführung der Kartoffel in Europa. Ich vermute, sich von dem zu ernähren, was in vernünftiger Weise vor Ort erzeugt wird (und wenig verarbeitet ist und schmeckt), ist keine schlechte Idee. Denn diese Erzeugnisse enthalten genau das, was der Körper braucht, um sich in der jeweiligen Umgebung wohl zu fühlen.

    1. Sabine Schlimm Artikel Autor

      Tja. Ich glaube, das sehe ich schon anders als Du. Grundsätzlich bin ich davon überzeugt, dass sich der menschliche Organismus ziemlich flexibel an das jeweils zur Verfügung stehende Nahrungsangebot anpassen kann – irgendwo (bei Gunther Hirschfelder?) habe ich gelesen, dass das sozusagen das evolutionäre Erfolgskonzept der Spezies Homo sapiens war bzw. ist. Klar gab es auch tatsächliche genetische Anpassungen wie diese Mutation, die auch Erwachsenen das Verdauen von Milch ermöglicht hat – eine Mutation, die sich aber im Wesentlichen in Europa durchgesetzt hat. Die ist, soweit ich weiß, erst wenige Tausend Jahre alt, und ich weiß nicht, ob es von dieser Sorte tatsächlicher Veränderungen des Erbguts noch viele gibt.
      Bei allen übrigen vermuteten oder behaupteten Anpassungen des Körpers an bestimmte Kostformen bin ich eher misstrauisch. Und über welche Zeiträume reden wir da eigentlich? Du erwähnst die Kartoffel, die bei uns seit maximal dreihundert Jahren als Lebensmittel verbreitet ist. Reichen die paar Hundert Jahre zur Anpassung? Oder sollten wir Kartoffeln vom Speiseplan streichen? Diese Indianerprojekte nehmen sich die Ernährung um 1600 zum Vorbild – was aber wohl den ganz praktischen Grund hat, dass es erst von diesem Zeitpunkt an überhaupt Überlieferungen zur Ernährung der Native Americans gibt.
      Zudem darf man ja nicht vergessen, dass „gesunde Ernährung“ aus Perspektive der Evolution ganz was anderes heißt als aus individueller Perspektive. Evolutionstechnisch reicht es ja, wenn ich durch adäquate Ernährung bis ins fortpflanzungsfähige Alter komme; ich persönlich dagegen hätte es gerne, dass ich auch mit 80 oder 90 noch nicht an irgendwelchen Ernährungsspätfolgen zu leiden habe. Und da weiß ich nicht, ob da unsere Urahnen so viel schlauer waren, als wir es sind.
      Und zuletzt: Dein Engagement für regionale Produkte in allen Ehren – aber der Garant für gesunde Ernährung sind die nicht. Es gibt Weltgegenden, wo Zuckerrohr wächst – ich glaube, auch dort ist Zucker nicht das Optimum für den menschlichen Körper. Und bei uns kann man sich durchaus auch mit regionalen Produkten einseitig oder schädlich ernähren.
      Sorry, ist eine Predigt geworden. Dabei freue ich mich sehr über Deinen Beitrag zur Diskussion!

  6. Pingback: Schmausepost vom 4. Juli 2014 - Newsletter | Schmausepost

    1. Sabine Schlimm Artikel Autor

      Danke für den Hinweis! Wow, tolles Thema für eine Examensarbeit. Übrigens habe ich mich schon in anderen Beiträgen mit Identitätsthemen auseinandergesetzt. Klick einfach mal auf das Schlagwort „Identität“ in der Tagcloud, dann bekommst Du sie angezeigt.

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  9. Mirjam

    Hallo Sabine,

    vielen Dank für den super interessanten Beitrag. Lustigerweise mache ich gerade selbst Experimente in diese Richtung. Ich hatte vor Kurzem einen Artikel mit mittelalterlichen Rezepten geschrieben und dafür natürlich etliche selbst ausprobiert, auch fernab jeglicher Ritteromantik. Neben Brot war damals Getreidebrei das Hauptnahrungsmittel des Großteils der Bevölkerung, sprich mehr oder weniger fein gemahlenes Mehl mit Wasser gekocht. Klingt jetzt nicht so nach kulinarischem Erlebnis, aber für mich war es eine Entdeckung, wie verschieden die unterschiedlichen Getreidesorten schmecken und mit welchen einfachen Mitteln man aus so einem Brei eine richtig leckere Mahlzeit machen kann.

    Liebe Grüße,
    Mirjam

  10. Mirjam

    Naja, was heißt anders ;-) Aber auf jeden Fall habe ich mich total in die Breie verliebt und bin nach so einer Mahlzeit satt und zufrieden. Und es liegt mir nicht schwer im Magen. Da können andere noch so sehr über unsere getreide- und kohlenhydratlastige Nahrung schimpfen, mir geht es damit nicht schlecht und für’s Laufen und Radeln habe ich richtig viel Elan und Energie.

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